Gewalt gegen Schwule
Helmut
Gewalt gegen Schwule ist nicht allgegenwärtig, aber man wird doch
immer wieder damit konfrontiert. Sicherlich hat sich einiges gebessert
sei 1913, als Magnus Hirschfeld angab, dass 30% der Homosexuellen erpresst
würden. Oder auch seit 1969, als bei einer Umfrage 33% angaben, das
Opfer von Erpressungen zu sein. Der Paragraph 175 existiert nicht mehr,
und die gesellschaftliche Akzeptanz ist höher.
Heute bedeutet Gewalt gegen Schwule weniger Erpressung oder
Nötigung. An deren Stelle traten längst Pöbeleien,
Körperverletzung, Diebstahl und Mord und Totschlag. So wurde in
einer ostdeutschen Studie von 1990 festgestellt, dass 55% der
Befragten angepöbelt und 25% Opfer physischer Gewalt wurden. In
einer anderen Untersuchung von 1992 in Niedersachsen waren die Werte
sogar noch höher. 61% wurden beleidigt und 26% Opfer von
Gewalttätern. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen
Ergebnissen. Eine amerikanischen Studie von 1978 fand, dass 35%
mindestens einmal wegen ihre Schwulseins überfallen. Und immerhin
14% wurden deswegen erpresst. Diese Zahlen sind erschreckend hoch -
immerhin bedeutet das, dass jeder dritte bis vierte Schwule Opfer
einer Gewalttat wird. Und das nur, weil er schwul ist.
Die Zahlen sind aber alle mit Vorsicht zu genießen. Zum einen
ist es sehr schwer, festzustellen, ob eine Gewalttat schwulenfeindlich
motiviert ist. Bei einer Erpressung ist das vielleicht noch einfach:
"gib mir Geld, oder ich erzähle allen, dass du schwul bist". Das
ist eindeutig. Aber wurde jemand nun überfallen, weil er schwul
ist, oder nur, weil jemand auf seinen Geldbeutel scharf war?
Die
Polizei führt, zumindest in Deutschland und den meisten
westlichen Industrienationen, keine separate Statistik über
schwulenfeindliche Übergriffe. Zum einen wären solche
Statistiken reichlich wertlos, weil viele Schwule aus Angst vor einem
Coming-out oder Diskriminierung durch die Polizei die Gewalttat gar
nicht anzeigen oder ihr Schwulsein verheimlichen. Diese Angst wird
natürlich bei einer Registrierung des schwulenfeindlichen
Hintergrunds noch gestärkt. Aber vor allem führt bereits der
Verdacht von rosa Listen zu Protesten durch Schwulenverbände, wie
letztes Jahr in Österreich. Zu schlecht sind die Erfahrungen aus
dem Dritten Reich, wo die rosa Listen aus der Weimarer Republik
gezielt zur Schwulenverfolgung genutzt wurden. Auch diese rosa Listen
wurden damals ursprünglich angelegt, um ein Bild von der
antischwulen Gewalt zu erhalten und in der Folge Schwule zu
schützen.
Trotz dieser Erfahrungen gibt es immer wieder
Planungen, die schwulenfeindlich motivierten Gewalttaten polizeilich
auch als solche zu erfassen. Vor allem, weil damit harte Zahlen zur
Verfügung stünden. Diese braucht man aber, um besondere
Maßnahmen gegen diese Form der Gewalt zu fordern. Genauso
braucht man diese für neue Einsichten und Kenntnisse über
das Phänomen antischwuler Gewalt. Letztendlich könnte man so
eventuell die Täter besser verfolgen, oder gar präventiv
tätig werden. Die damit einhergehenden Probleme sind aber
enorm. Zum einen ist das individuelle Opfer nicht an diesen hehren
Zielen interessiert, sondern will einfach die erlittene Gewalt
gesühnt sehen und das erlittene Unrecht
anprangern. Außerdem besteht die, kaum zu widerlegende, Gefahr,
dass die Daten nicht gänzlich anonymisiert werden und damit ein
intimes Detail über das Opfer wider dessen Willen registriert und
publik wird. Schließlich kann niemand garantieren, dass die
registrierten Daten nicht an den falschen Stellen weiterverwertet
werden. Eine Studie an der Universität Utrecht kam daher zu dem
Schluss: "Als Methode,... Kenntnisse in bezug auf die Art der
Homosexuellen Gewalt zu erwerben, hat sich die Registrierung als
völlig ungeeignet erwiesen; Zielgruppenforschung führt mit
weniger Anstrengung zu weit besseren Ergebnissen."
Alle
Untersuchungen kranken an dem Problem, dass wissenschaftlich greifbare
Kriterien dafür, was eine schwulenfeindliche Gewalttat ist, kaum
aufgestellt werden können. Daher basieren die Umfrageergebnisse
aus dem subjektiven Gefühl der Opfer, ob die Gewalt gegen Sie
schwulenfeindlich motiviert war oder nicht. Bei allen Unsicherheiten
und Fragezeichen sind die Untersuchungen und Zahlen doch interessant,
da man nur so ein Gefühl für das Ausmaß antischwuler
Gewalt entwickeln kann.
Eine interessante Quelle sind vor diesem
Hintergrund die schwulen Überfalltelefone, die in verschiedenen
Städten eingerichtet wurden. Da sie aus der schwulen Szene heraus
initiiert wurden, ist die Hemmschwelle viel niedriger als
gegenüber der Polizei. Dadurch können mehr und
verlässlichere Informationen gesammelt werden. Was für
Menschen überfallen gezielt Schwule, und warum? Die bei den
schwulen Überfalltelefonen gemeldeten Fälle zeigen einen
jungen Täterkreis. Rund die Hälfte aller Täter sind
unter 22, und nur noch jeder zehnte ist über 30. Die
Überfälle werden fast ausschließlich alleine oder in
einer kleinen Clique verübt und hauptsächlich durch
Männer. Damit wird ein naheliegendes Täterbild
bestätigt. Gewalt gegen Schwule wird vor allem von
männlichen Jugendlichen begangen. Psychologen nehmen an, dass
vielen Jungen ein klares Bild des Mannseins fehlt. In Ermangelung von
männlichen Rollenvorbildern schustern sie sich eine
überzogene Männlichkeitsvorstellung aus Elementen wie
Härte, Stärke, Sportlichkeit etc. zusammen. Der Jugendliche
müsse nun ständig sich und seinen Freunden beweißen,
dass er diesen falschen Idealvorstellungen entspricht. Eben, dass er
ein richtiger Mann ist. Die als weiblich empfundenen oder besser
gesagt als weiblich erwarteten Schwulen werden demonstrativ abgelehnt.
Gewalt gegen Schwule ist da gleich mehrfach praktisch. Zum einen
kann im Gewaltakt selbst die eigene Stärke, Härte und Macht
demonstriert werden. Außerdem können die eigenen
Ängste bezüglich der Identität als Mann auf das schwule
Opfer projiziert werden und so symbolisch mit ihm besiegt
werden. Gerade Jugendliche, die sich ihrer eigenen sexuellen
Orientierung nicht sicher sind, sollen deshalb zu antischwuler Gewalt
neigen. Dadurch können sie ihre Ängste
überkompensieren. Schließlich kann dadurch jeder Verdacht,
dass sie selbst schwul sind, schlagkräftig widerlegt
werden. Entsprechend hat Prof. Adams von der University of Georgia in
einer Studie behauptet, dass 80% der homophoben Männer selbst
homosexuelle Neigungen haben.
In dem Schwule abgewertet werden,
können die Jugendlichen das eigene Männlichkeitsbild
aufwerten und stabilisieren. Vereinfacht kann man also sagen: Jungs
gehen Schwulenklatschen, um als toller und garantiert Heterosexueller
Hecht dazustehen.
Diese Mechanismen würde aber kaum zu einem
nennenswerten Effekt führen, wenn das gesellschaftliche Umfeld
dieses Verhalten nicht begünstigen würde. Das die Toleranz
gegenüber Schwulen und Lesben oft nur oberflächlich ist,
zeigt eine Umfrage von 1991. Der noch recht unverbindlichen Aussage
"Die sexuelle Orientierung von Menschen ist mir gleichgültig,
warum sollte ich mich daran stören" stimmten noch zwei drittel
der Befragten zu. Ebenfalls zwei drittel möchte aber schon keinen
Schwulen in der Nachbarschaft, im Kollegenkreis oder im
Bekanntenkreis. Und auch für zwei drittel ist Homosexualität
eine Fehlentwicklung, eine Krankheit oder zumindest ein
Laster. Genauso viele wollen denn auch ein Verbot von Schwulen in
politischen Ämtern oder als Lehrer. Und immerhin ein fünftel
unterstützt die Aussage "was die Homosexuellen treiben ist doch
eine Schweinerei, die sollten kastriert werden". Wie da gleichzeitig
zwei drittel sagen können, die sexuelle Orientierung von Menschen
sei ihnen gleichgültig, ist kaum zu verstehen. Insgesamt zeigt
die Umfrage aber deutlich, dass hinter der offen zur Schau getragenen
Toleranz immer noch eine tief verwurzelte Abneigung liegt.
Schwulenfeindlich eingestellte Jugendliche können also mit
einem gewissen Rückhalt für ihre Ansichten in der
Gesellschaft rechnen. Und Widerspruch haben sie auch kaum zu
befürchten. Nur wenige Jugendliche werden sich dem Verdacht,
schwul zu sein, aussetzen, in dem sie für Schwule Partei
ergreifen. Und vermeintlich schwule Lehrer oder Jugendarbeiter
müssen mit Akzeptanzproblemen bei den Eltern und den Jugendlichen
rechnen. Also gilt vielfach die Devise "Augen zu und
durch". Schwulenfeindliche Ausfälle bei Jugendlichen werden so
gerne als ganz normale Phase begriffen. Oft trifft dies auch zu, aber
hin und wieder werden aus den anti-schwulen Phrasen traurige
Realität. Gewalt gegen Schwule ist schwer zu erfassen. Dies
liegt auch an der besonderen Situation der Opfer. Schätzungen
gehen davon aus, dass nur jede zehnte schwulenfeindlich motivierte
Gewalttat angezeigt wird. Gründe dafür gibt es viele. Auch
ein Schwuler ist eben nur ein Mann. Und ein Mann gibt eben nicht zu,
dass er anderen hilflos ausgeliefert war. Das falsche Bild von
Männlichkeit, das die Täter oft erst zu ihrer Tat motiviert,
schützt sie hier gleichzeitig auch. Ein spezielles Problem bei
schwulen und lesbischen Opfern ist die Angst vor einem
unkontrollierten Coming-Out und der eventuellen Diskriminierung durch
die Polizisten. Dem ersten Coming-Out gegenüber den Polizisten
können noch viele weitere, unfreiwillige folgen, wenn Freunde,
Kollegen oder Verwandte erfahren, dass die Gewalttat einen
schwulenfeindliche Hintergrund hatte. Oder wer möchte schon
seinen Kollegen auf die Nase binden, dass er nach der Machotime im
Connexion ausgeraubt wurde?
Viele Täter sehen in Schwulen ein
leichtes und sicheres Opfer. Die unmännlichen Schwuchteln werden
sich nicht wehren und später trauen sie sich aus Scham nicht zur
Polizei. Dadurch werden Schwule als bevorzugtes Opfer auserkoren. Und
zumindest bei der Scheu vor der Polizei verkalkulieren sich die
Täter all zu oft nicht.
Mit der Gewalttat wird auch die
eigene Identität als Schwuler angegriffen. Ähnliche
Erfahrungen kennt man von vergewaltigten Frauen, die nach der
Vergewaltigung ihre Sexualität nicht mehr unbefangen ausleben
können. Da sich auch antischwule Gewalt auf die Sexualität
der Opfer gründet, treten bei den Opfern ähnliche Folgen
auf. J.L. Herman, die sich mit den Folgen von Gewalt für die
Opfer befasst, sagt dazu: "Das Trauma zwingt die Betroffenen, alle
früheren Kämpfe um Autonomie, Initiative, Kompetenz,
Identität und Intimität noch einmal durchzustehen". Opfer
antischwuler Gewalt können in ihrem Coming-Out Prozess um Jahre
der persönlichen Entwicklung zurückgeworfen werden. Dadurch
kann es für die Betroffenen sehr schwer werden, sich mit der
erlebten Gewalt auseinander zusetzen und diese zu verarbeiten.
Polizisten, die mit antischwuler Gewalt vertraut sind, sagen denn
auch, es handle sich um ein Gewaltphänomen, bei dem die
Täter leichter zu ermitteln sind, als die Opfer.
Opfer werden
dabei Schwule aller Altersklassen. Gewalt findet überall statt,
zu Hause, in der Szene oder auf der Strasse. Und es trifft auch alle
"Typen" - Lederkerle genauso wie Tunten oder der stinknormale Schwule
von nebenan. Während also der Täterkreis vergleichsweise gut
einzugrenzen ist, kann es bei den Opfern jeden treffen. Dies ist auch
einigermaßen logisch, wenn man bedenkt, dass es sich ja nicht um
geplante Taten handelt, sondern eher um spontane Ausbrüche
jugendlichen Größenwahns. Um einen Eindruck von der
schwulen Gewalt zu vermitteln, möchte ich ein paar
schwulenfeindliche Gewaltakte auflisten, die in der letzten Zeit
Schlagzeilen machten. Die Liste ist bei weitem nicht vollständig
und die Fälle sind auch nicht nach besonderen Kriterien
ausgewählt. Es ist einfach ein kleiner Streifzug durch die
Pressemeldungen von Ende 1998 bis Ende 1999, also rund ein Jahr.
In München wurde der Travestiekünstler Michael Klug von
drei Schlägern brutal zusammengeschlagen, als er in voller
Drag-Montur aus der Straßenbahn ausstieg. Im August wurde in
München ein 38 jähriger niederländischer Tourist so
schwer verletzt, dass er tagelang im Koma lag. Im September traf es
dann drei junge Männer, die als "Blöde Schwuchteln"
zusammengeschlagen wurden. Überhaupt gab es in München im
Herbst 1999 eine Welle antischwuler Gewalt, die die US
Schwulenzeitschrift Advocate dazu brachte, von Besuchen in
München abzuraten. Der Sprecher der Münchner Rosa Liste: "Es
gibt in München etwa 100 Überfälle auf
Homosexuelle". Die Polizei sieht jedoch meist keinen
schwulenfeindlichen Hintergrund.
In Düsseldorf hat ein Mann
rot gesehen, als er angeblich von einem Schwulen betatscht
wurde. Daraufhin hat er ihm den Kehlkopf zertrümmert und ihn
ausgeraubt.
In Stockholm wurden Anfang August 1999 zum Auftakt und
zum Ende des Stockholmer Schwulen-Sommerfestivals
«Gaypride» drei homosexuelle Männer von Skinheads aus
der Neonazi-Szene misshandelt.
Ebenfalls in Schweden wurde das
Büro des Schwulenverbands RFSL in Tollhättan im
Frühjahr 1999 15 mal durchwühlt.
In London explodierte
im Mai 1999 eine Bombe im schwulen Szenelokal "Admiral Duncan". Die
Explosion gehörte zu einer Szene von Anschlägen gegen
Minderheiten in London.
In Zittau überfielen laut
Polizeibericht 30 Rechtsradikale "eine Veranstaltung der Schwulen- und
Lesbenbewegung im Rathauskeller", misshandelten Besucher,
plünderten Kasse und Tresen. Im Rahmen dieses Überfalls
wurden auch schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben, die nicht
bereit gewesen sein soll, einzugreifen und sich geweigert habe,
Anzeigen aufzunehmen.
Für sehr viel Aufsehen sorget im
Oktober 1998 der Mord an dem 22 jährigen Studenten Matthew
Shepard in Wyoming/USA. Shepard wurde brutal geschlagen und dann an
einem Zaun wie ein Stück Vieh angebunden, um zu sterben. Selbst
der Amerikanische Präsident hat angesichts dieses Mords seiner
Betroffenheit Ausdruck verliehen.
Kurz vor dem Mord an Matthew
Shepard wurde in Buffalo, New York, auf einen schwulen Mann
eingeschlagen. Drei Jugendliche schlugen ihn mit einem Stuhl. Als das
Opfer auf dem Boden lag, traten sie ihn mit den Beinen ins
Gesicht. Der Mann starb wenig später an seinen Verletzungen.
In Baltimore haben Jugendliche eine 31jährige Drag Queen
angeschossen. Der 31jährige Leonard "Lynn" Vines geriet auf
offener Straße in eine Gruppe von Jugendlichen, die ihn direkt
verbal angriffen. Obwohl Vines nach eigener Aussage einer
Konfrontation aus dem Wege gehen wollte, ergriff einer der
Jugendlichen eine Pistole und drückte sechsmal den Abzug.
In
Monte Rio, Kalifornien, wurden zwei schwule Männer erschossen
aufgefunden. Einer der beiden, ein Besitzer mehrerer Schwulenkneipen
in San Francisco, hatte sich noch am Vorabend bei einem Freund
beklagt, dass ein Fremder ihn andauernd belästigen würde.
Auch in Orlando, Florida wurde ein Schwuler erschossen. Sebastian
Durgins, 26, starb an einem Kopfschuss. Die Polizei hält einen
schwulenfeindlichen Hintergrund für wahrscheinlich.
Ebenfalls
in den USA haben zwei Täter einem 39 jährigen aufgelauert,
niedergeschlagen und auf einen brennenden Autoreifenstapel
geworfen. Der Grund: er habe sie sexuell belästigt.
In
Burton, Staffordshire, wurde der 15jährige Darren an seiner
Schule wegen seines Schwulseins gehänselt, getreten und
geschlagen. Zudem haben Gleichaltrige mindestens einmal Zigaretten
auf seinem Rücken ausgedrückt. Das ergab eine offizielle
Untersuchung seitens der Schule, nachdem sich Darren erhängt
hatte, weil die Belastungen für ihn zu viel wurden.
In Dublin
wurde Anfang 1999 der amerikanische Schriftsteller Robert Drake von
zwei Jugendlichen zusammengeschlagen und misshandelt, weil er schwul
ist.
In Stuttgart wurde im September 1999 ein 16 jähriger
verhaftet, der zugab, einen 36 jährigen mit einem Messer verletzt
und andere bedroht zu haben. Als Grund gab er Schwulenhass an. Die
schwule Bewegung reagiert auf Gewalt gegen Schwule unter anderem durch
die Einrichtung eines Netzwerks von schwulen
Überfalltelefonen. Im Juni 1990 wurde das erste schwule
Überfalltelefon Deutschlands von Mann-O-Meter in Berlin
eingerichtet. Seither wurde dieses Beispiel in vielen anderen
deutschen Städten nachgeahmt. Dabei bearbeiten die schwulen
Überfalltelefone nach ihrem eigenem Selbstverständnis sechs
Bereiche:
-
Alle gemeldeten Gewalttaten werden dokumentiert und ausgewertet.
Als Teil der schwulen Szene haben die Überfalltelefone den Vorteil
einer wesentlich geringeren Hemmschwelle auf Seiten Opfer als beispielsweise
die Polizei. Dadurch können wertvolle Daten gesammelt werden, an die
staatliche Stellen nur bruchstückhaft kämen. Diese Daten sollen
zur Prävention und Lobbyarbeit genutzt werden.
-
Opfer werden telefonisch oder persönlich betreut und beraten. Auch
hier profitieren die Überfalltelefone von der niedrigeren Hemmschwelle.
Allerdings stellt eine solche Beratung natürlich hohe Ansprüche
an die Beratenden.
-
Das Wissen über Gewalt gegen Schwule soll gezielt an Schwule und Heteros
herangetragen werden. Dabei sollen die Schwulen ohne übertriebene
Panikmache für die Gefahr sensibilisiert werden. Den Heteros soll
vor allem die antischwule Gewalt bewusst gemacht und für Solidarität
plädiert werden.
-
Die Überfalltelefone verstehen sich auch als Verbindungsglied zur
Polizei. Durch diese Mittlerfunktion kann beiden Seiten geholfen werden.
Die Opfer sind nicht alleine der vielleicht als bedrohlich empfundenen
Staatsgewalt ausgeliefert. Die Polizei soll durch Informationen und Kontakte
mit Schwulen sensibilisiert und aufgeklärt werden. In einigen Großstädten
gibt es mittlerweile auch spezielle Schwulenbeauftragte bei der Polizei,
die sich auch als Ansprechpartner für Opfer schwuler Gewalt verstehen.
Aber Bastian Finke, Projektleiter des Berliner Überfalltelefons, sagt
in diesem Zusammenhang: "Während wir uns intensiv über den Ansprechpartner
der Berliner Polizei für gleichgeschlechtliche Lebensweisen um einen
kritischen Dialog mit der Berliner Polizei bemühen, können wir
auch heute noch nicht von einer normalen Beziehung zwischen Schwulen und
der Polizei reden".
-
Es soll auch ein Dialog zwischen Opfern und Tätern gesucht werden.
Außerdem soll speziell im Dialog mit den Tätern weiteren Gewalttaten
vorgebeugt werden.
-
Durch die Vernetzung der schwulen Überfalltelefone Deutschlands, der
Opferhilfen in Deutschland etc. soll ein leistungsfähiges Netz aufgebaut
werden, das Opfern tatkräftig zur Seite stehen kann.
Unabhängig davon stehen natürlich auch die restlichen,
nicht schwulenspezifischen Anlaufstellen und Hilfen für Opfer von
Gewalt zur Verfügung.
Gewalt gegen Schwule - das ist in Deutschland und Europa vor allem Gewalt
von Einzelnen gegen ein als leicht oder minderwertig empfundenes Ziel.
Wir sind in der glücklichen Lage, keine systematische bzw. staatliche
Verfolgung ertragen zu müssen. Vor nicht all zu langer Zeit war das
hier noch ganz anders, und in vielen Teilen der Welt ist auch heute noch
eine staatliche Verfolgung Homosexueller an der Tagesordnung.
Vor hundert Jahren haben selbst Leute wie Magnus Hirschfeld, der ja
kaum als schwulenfeindlich anzusehen ist, hanebüchene Operationen
befürwortet, um Männer von ihrem Schwulsein zu heilen. So wurden
dann Hoden verpflanzt, Gehirnteile entfernt oder einfach kastriert. Sogenannte
Therapien, um Homosexuelle mit Elektroschocks etc. zu heilen, waren auch
Mitte des Jahrhunderts noch weit verbreitet und finden auch heute noch
ihre Anhänger. Vor gar nicht langer Zeit galt Homosexualität
nach der Definition der WHO noch als Krankheit. Und auch auf unseren Krankenversicherungschipkarten
wurde ein Code für die Krankheit "Homosexuell" reserviert.
Auch die Politik und damit das Rechtssystem sah Homosexuelle lange Zeit
als Minderwertig an. In Deutschland ist der Paragraph 175 nur langsam gefallen.
Nach seiner unrühmlichen Geschichte während des dritten Reichs,
als Schwule ja gezielt verfolgt, kaserniert und getötet wurden, galt
der $175 ja auch in der BRD und der DDR zunächst weiter. Langsam vielen
dann die Verbote. War zunächst jeder Sex unter Männern strafbar,
so war später nur noch Sex mit Minderjährigen verboten und schließlich
wurde der 175 in den 90er Jahren in den Bugwellen der Wiedervereinigung
endlich aufgehoben. Ähnlich sah dies auch in vielen unserer Nachbarstaaten
aus, wobei auch heute noch in einigen für Homos andere Verbote gelten
als für Heteros. So etwa in England, wo eine Angleichung des Schutzalters
bereits mehrfach am House of Lords scheiterte.
Aus diesen Zuständen resultierende Eingriffe können das Leben
eines Menschen genauso schwerwiegend beeinflussen wie ein brutaler Überfall.
Plötzlich sitzt man für Jahre im Gefängnis, ist vorbestraft.
Oder man wurde medizinisch verkrüppelt, unerträglichen psychischen
oder physischen Belastungen ausgesetzt. Zumal diese Form der Gewalt auch
systematisch ist und der Gewaltakt kein einmaliges Ereignis ist, das man
verarbeiten kann, sondern über Jahre hinweg andauern kann. Auch heute
noch gibt es Länder, in denen Schwule verfolgt werden. Staatspräsidenten
bezeichnen Schwule als Schande der Nation oder als Untermenschen. Schwulen
werden unter Schuttmassen verschüttet - als Gottesurteil über
ihren Lebenswandel.
Eine weitere Form der Gewalt, die in der heutigen Sendung sicher zu
kurz kam, ist das langsame sticheln und niedermachen von Schwulen, ebenso
wie offen zur Schau getragener Hass und Verachtung. Ganz besonders schwule
Jugendliche haben darunter zu leiden. Klassenkameraden hänseln sie,
behandeln sie wie Abschaum. Und in der Familie finden sie nur all zu oft
auch Ablehnung. Oder fürchten diese zumindest aufgrund von Schwulenwitzen
oder aufgeschnappten Kommentaren. Sehr viele junge Schwule sehen in diesem
Umfeld nur noch einen Ausweg: den Freitod. Viele Statistiken zeigen, dass
homosexuelle Jugendliche deutlich höher selbstmordgefährdet sind
als heterosexuelle.