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Buchbesprechungen

Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen

Helmut

Heute möchte ich Euch wieder einmal eine Biographie vorstellen. In "Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen" wird die Lebensgeschichte von Pierre Seel erzählt. Er hat das Buch unter Mithilfe von Jean Le Bitaux geschrieben. Pierre Seel ist ein einfacher Mensch, sicher kein großer Literat. Und auch durch die Feder von Le Bitaux wird daraus kein Goethe oder Shakespeare. Das Buch fesselt daher nicht durch ausgefeilte Formulierungen oder Sprachakrobatik. Soll es auch nicht. Es fesselt vielmehr einzig durch das aussergewöhnliche Schicksal Pierre Seels. Und das ist wirklich interessant.

Geboren 1923 wuchs er im Elsass auf. Schon früh war ihm klar, dass er homosexuell war. Nur zögerlich begann er, zu seiner Homosexualität auch zu stehen. Als die Deutschen 1940 im Elsass einmarschierten, fand die Gestapo seinen Namen trotzdem rasch auf einer rosa Liste. Er wurde verhaftet, verhört, misshandelt und schließlich ins KZ Schirmeck-Vorbruck gebracht. Die Zeit dort muss schrecklich gewesen sein. Aber Pierre überlebte. Er wurde als "geheilt" entlassen. In Wirklichkeit kehrte ein gedemütigter, gebrochener junger Mensch nach Hause zurück. Nur um wenig später in die Armee der verhassten Deutschen eingezogen zu werden. Bei Kriegsende landete er in einem Kriegsgefangenenlager in der Ukraine. Eigentlich sollten zwangsverpflichtete Soldaten aus dem Elsass, wie Pierre, direkt nach Hause entlassen werden. Aber die Realität in den Nachkriegstagen sah anders aus, und Pierre Seel kam nur mit viel Glück und nach viel Mühen zurück nach Hause.

Es gibt ja viele Biographien über Kriegsschicksale. Die meisten enden mit dem Kriegsende 1945 oder kurz danach. In Pierre Seels Biographie sind wir damit erst auf Seite 101 von 210 angekommen. Und bei der Erkenntnis, die für das Schicksal Pierres so symptomatisch ist, dass es auch den Titel der englischen Ausgabe ergab: Zitat "Die wahre Befreiung war nur für die anderen".

Schon bei seiner Heimkehr aus dem KZ war der Grund für seine Verhaftung, seine Homosexualität, ein Tabu. Erst Jahre später traute er sich seiner Mutter an. Kurz vor ihrem Tod. Und das nächste mal sprach er darüber Jahrzehnte später, mit einem Journalisten. Die schwule Szene seiner Heimat war Pierre fremd. Die Schwulen, die sich hinter einer gutbürgerlichen Fassade versteckt haben, stießen ihn ab. Die Zahl der Gewalttaten gegen Schwule stieg nach dem Krieg stark an. Zu einem offen schwulen Leben fehlte ihm die Kraft.

Schließlich heiratete er. Seine Homosexualität konnte er aber nicht dauerhaft unterdrücken. Es zog ihn wieder zu Männern hin. Die Ehe scheiterte. Er landete fast als Penner in der Gosse. Durch einen Zufall traf er den Journalisten Jean Pierre Jocker, der über schwule Opfer des Nazi-Regimes recherchierte. Damit begann die Aufarbeitung seiner Biographie. Anlässlich einer homophoben Äußerung des Strassburger Bischofs trat er dann in die Öffentlichkeit. Mittlerweile wurde Pierre Seel einer der bekanntesten Streiter für eine Rehabilitation der homosexuellen Nazi-Opfer. Sein Antrag auf Entschädigung für die KZ-Zeit war zum Zeitpunkt des Erscheins des Buchs, 1994, immer noch nicht entschieden. Er war auch einer der wenigen Augenzeugen, die für den Film §175 über ihr Schicksal als Schwule in Nazi-Deutschland zu reden bereit war.

Das Buch erzählt in nüchterner und umso erschütternderer Weise, wie das Leben eines Menschen aus den Bahnen geworfen, ja zerstört werden kann. Es zeigt auch, was die simple Erkenntnis "ich bin schwul" noch vor nur einem halben Jahrhundert für gravierende Konsequenzen haben konnte. Die Misshandlungen durch die Gestapo. Die Zeit im KZ, wo er den barbarischen Mord an seinem Freund mit ansehen musste. Die Zwangsrekrutierung für die deutsche Armee. Komplett mit Kampfeinsätzen, Kriegsverletzung und Kriegsgefangenschaft. Dann das totschweigen seiner Homosexualität durch seine Familie, aber auch durch ihn selbst. Der zwanghafte Versuch, wider besseren Wissens eine gutbürgerliche Existenz als Ehemann und Familienvater aufzubauen. Und schließlich der Kampf an einer der vordersten Fronten der Schwulenbewegung, die ihn, der seine Homosexualität noch nicht einmal im engsten Familienkreis eingestehen konnte, bis ins Fernsehen und Kino brachte. Jedes einzelne für sich gesehen eine beeindruckende Erfahrung. Das Leben eines Menschen ist fast schon zu kurz, um all diese Erfahrungen aufzunehmen.

Schwulenpolitisch leben wir heute in einem Paradies. Man kann als offen Schwuler heutzutage Bundesratspräsident und damit zweiter Mann im Staat werden. "Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen" gibt einen bestürzenden Eindruck in eine noch gar nicht allzuweit zurückliegende Zeit, als das noch ganz anders war. Und das Buch zeigt auch, dass es sich dabei eben nicht um eine beschämenden Episode namens "Nazi-Deutschland" handelt. Während der Nazi-Zeit erreichte die Verfolgung Homosexueller neue Höhepunkte. Aber auch danach wurden Homosexuelle verfolgt. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich blieben die Homosexuellen-Gesetze in Kraft. Und Pierre Seel stellte auch fest, dass es nach dem Krieg viel mehr Gewalttaten gegen Homosexuelle an ihren Treffpunkten gab, als vorher. Vielleicht hat sich die Schwulenbewegung überlebt und alle ihre Ziele erreicht, wie Werner Hinzpeter in seinem Buch "Schöne schwule Welt" behauptet. Pierre Seels Biographie zeigt deutlich, dass diese schöne schwule Welt noch sehr jung ist. Wer sich auch nur ein bisschen für dieses Thema interessiert, wird von dem Buch "Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen" begeistert sein.

 


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Letzte Änderung 16.1.2004